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Online Marketing

Zwischen Content-Müll und Sichtbarkeitskrise: Wie sich das Marketing neu erfinden muss

Was passiert, wenn das Internet unter seiner eigenen Masse zusammenzubrechen droht? Wenn sich hochwertige Inhalte kaum noch durchsetzen können? Und wenn selbst Werbeprofis ihre Zielgruppen nicht mehr dort erreichen, wo sie einst verlässlich zu finden waren?

Beim OMR-Festival 2025 gaben Philipp Westermeyer und Roland Eisenbrand in ihrer vielbeachteten Präsentation „State of the German Internet“ Antworten – und die fielen ebenso schonungslos wie aufrüttelnd aus.

Das Internet, voll mit KI-Matsch

Eisenbrand brachte es provokant auf den Punkt: Das Internet werde zunehmend von minderwertigem, KI-generierten Content überschwemmt. Ein Zustand, den er als „AI Slop“ bezeichnet.

Der Begriff könnte, so seine Prognose, zum Wort des Jahres werden. Die Folge: NutzerInnen werden skeptischer, das Vertrauen in Online-Inhalte sinkt. Rund 70 Prozent zweifeln bereits an der Echtheit dessen, was ihnen online begegnet.

Eisenbrands Fazit: „Wir müssen zurück in die echte Welt.“ Denn dort, im echten Leben, liegen für Marken derzeit die größeren Chancen.

Raus aus dem Feed, rein ins Leben

Zwei strategische Ansätze hebt Eisenbrand hervor, mit denen Unternehmen auf diese neue Realität reagieren können:

1. Community Piggybacking – statt eigene Communitys mühsam aufzubauen, sollten Marken sich in bestehende soziale Netzwerke integrieren. Die App Strava dient dabei als Paradebeispiel: Dort tummeln sich Laufgruppen, die Lululemon oder Another Cotton Lab bereits erfolgreich für sich nutzen. Letzteres Unternehmen hat es geschafft, durch organisch gewachsene Lauf-Events seinen Umsatz in nur einem Jahr fast zu verzehnfachen.

2. Product Staging – Produkte brauchen eine Bühne. Live-Inszenierungen, die über Social Media weitergetragen werden, erzielen eine enorme Reichweite. Vorwerk inszenierte etwa den neuen Thermomix wie ein Theaterstück, Jellycat stellte Plüsch-Pancakes in Einkaufszentren aus – inklusive virtueller Kochshows. Diese Art des Erlebnis-Marketings zahlt nicht nur auf Bekanntheit ein, sondern liefert auch reichlich Social-Content.

Die unsichtbare Marke: Marketing im KI-Schatten

Neben dem Trend zur Offline-Inszenierung sorgt ein zweites Thema für Unruhe: die massive Verschiebung im digitalen Suchverhalten. KI-gestützte Antwortboxen – wie sie Google oder Microsoft Bing seit Kurzem ausspielen – liefern Nutzern direkte Ergebnisse oberhalb der klassischen Links. Für die meisten Websites bedeutet das: weniger Klicks, weniger Sichtbarkeit.

Die Zahlen, die Eisenbrand präsentiert, sind alarmierend: Die Click-Through-Rates für organische Suchergebnisse sind auf 0,6 Prozent gefallen, bezahlte Anzeigen erreichen nur noch gut 6 Prozent. „Ein Marketing-Blutbad“, nennt er diesen Effekt.

Sichtbarkeit neu denken

Um in einer Welt der automatisierten Antworten präsent zu bleiben, rät Eisenbrand zu drei Maßnahmen:

Technische Sichtbarkeit optimieren: Webseiten müssen so gestaltet sein, dass Crawler sie vollständig erfassen können. Inhalte, die in JavaScript oder interaktiven Modulen versteckt sind, bleiben unsichtbar – auch für KI.

Tools für AI Optimization nutzen: Die Toolbox der SEO-ExpertInnen muss aktualisiert werden. Daten aus KI-Trainingssystemen wie Bing und OpenAI fließen bereits heute stark in Empfehlungen ein.

Erwähnungen in vertrauenswürdigen Medien erzeugen: Da KI besonders stark auf etablierte Medien zurückgreift, gewinnen sogenannte „Mentions“ an Bedeutung. Empfehlungen auf Plattformen wie FAZ, Welt oder Chip wirken sich positiv auf Sichtbarkeit in KI-Antworten aus – und ersetzen klassische Link-Strategien.

Deutsche Digitalwirtschaft: vorsichtiger Optimismus

Westermeyer rundete den Ausblick mit einem Blick auf die globale Tech-Szene ab. Während US-Giganten wie Apple, Nvidia oder Microsoft ihre Marktkapitalisierung weiter ausbauen, holt auch Deutschland langsam auf. Der sogenannte „German Internet Index“ (GIX), nun inklusive SAP, kommt inzwischen auf ein Volumen von 350 Milliarden Euro – fast auf Augenhöhe mit den großen chinesischen Plattformen.

Auch europäische Erfolgsgeschichten wie Spotify, Adyen oder ASML zeigen, dass Weltmarktführerschaft kein amerikanisches Monopol ist. Was fehlt? Eine solide „Unicorn-Maschine“, so Westermeyer – also ausreichend Kapital, um vielversprechende Unternehmen in globale Marktführer zu verwandeln.

Fazit: Zurück zu echten Erlebnissen – mit smarter Sichtbarkeit

Marketer müssen sich auf zwei Entwicklungen gleichzeitig einstellen: Einerseits braucht es wieder mehr echte Begegnungen und emotionale Erlebnisse – jenseits der Bildschirme.

Andererseits wird digitale Sichtbarkeit immer technischer, komplexer und flüchtiger. Wer beides meistert, bleibt nicht nur sichtbar – sondern relevant.